Montag, 3. August 2015

Dank Kindern direkt zu Hartz IV?

Zugegeben, eine etwas provokante These, die ich da heute mal in den Raum stelle. Halten wir uns an die Fakten: Die Bundesagentur für Arbeit präsentierte jüngst wieder einmal Zahlen, die vermuten lassen, dass in Deutschland Vollbeschäftigung herrscht. 
Was jedoch hierbei unter den Tisch fällt (es ist zwar im Zahlenwerk versteckt, aber wird weder von Presse noch Politik besonders wahrgenommen) sind die Familien, die aufgrund des Zuwachses im Kleinformat gezwungen sind, auf staatliche Unterstützung nach dem SGB II, landläufig bekannt als Hartz IV, zurückzugreifen. Diese sogenannten Aufstocker beziehen mindestens ein Einkommen, sind somit nicht arbeitslos und fallen damit nicht in die einzige politisch relevante Statistik.

Wer aber muss bzw. kann denn überhaupt diesen Weg gehen? Schauen wir uns hierzu einmal exemplarisch an:

Familie M hat bereits ein Kind von 2 Jahren, beide haben einen Ausbildungsberuf erlernt und erzielten vor der Geburt jeweils ein Nettoeinkommen von rund € 1100,00. Nun ist Frau M in Elternzeit, es wird ein Elterngeld in Höhe von € 750,00 gezahlt*. Hinzu kommt das Kindergeld von je € 184,00. Gesamt stehen somit rund € 2200,00 zur Verfügung. Eine ordentliche Summe? Ja, auf den ersten Blick selbst dann, wenn man die Berliner Durchschnittsmiete für eine 3-Zimmer Wohnung von € 850,00** abzieht und nochmals rund € 100,00 für Nebenkosten für Strom, Internet, Handy und Versicherungen hinzurechnet bleiben am Monatsanfang rund € 1250,00 zur Verfügung.

Kann man durch die Geburt eines weiteren Kindes damit etwa auf Hartz IV Niveau sein?
Lassen Sie es uns durchrechnen.
  • Erwachsene Ehepartner haben einen Anspruch gegenüber dem Jobcenter auf je € 360,00 pro Monat, zusammen also € 720,00
  • Kinder unter 6 Jahren haben einen Anspruch auf € 234,00 = € 468,00
  • Als angemessene Miete  etabliert sich bundesweit in der Rechtsprechung aktuell ein Trend zu rund € 9,55 / m² (Achtung: Beispielsweise in Berlin gibt es derzeit keine gültige Anwendungsverordnung, so dass jeder Fall individuell zu prüfen ist). Da unsere Familie M jedoch erstmalig einen Antrag stellt, muss das Jobcenter zunächst die tatsächliche Miete von € 850,00 in voller Höhe übernehmen.
Wir haben also einen Anspruch gegenüber dem Staat auf: € 720,00 + € 468,00 + € 850,00 = € 2038,00
Hiervon sind noch 2x € 184,00 Kindergeld abzuziehen, da dieses Geld ja bereits von der Familienkasse unabhängig von Hartz IV ausbezahlt wird. Es bleibt also ein Anspruch von € 1670,00.
Bis hierhin hat Familie M also (noch) keinen Anspruch auf ALG II. 


Auch eine Möglichkeit Einkommen zu generieren?
Das Jobcenter belohnt jedoch diejenigen die arbeiten gehen mit einem anrechnungsfreien Abschlag auf ihren Nettolohn. So bleiben im Fall von Herrn M. von € 1100,00 insgesamt € 210,00 unberücksichtigt, bei Frau M. bleiben sogar € 300,00 anrechnungsfrei, da Elterngeld als Ersatz für den fehlenden Lohn anzusehen ist und somit ebenso vom Amt honoriert werden muss.***

Jetzt aber sieht unsere Ausgangsrechnung schon ganz anders aus.
Das für das Amt relevante Familieneinkommen beträgt nun € 890,00 + € 450,00 + € 184,00 + € 184,00  = € 1708,00

Und nun wird unsere Familie endgültig leistungsberechtigt im Sinne des SGB II, denn es werden noch für die beiden Eltern je € 30,00 abgezogen als Pauschalbetrag für angemessene Versicherungen (Haftpflicht, Hausrat etc).

Unsere Schlussrechnung sieht daher - vereinfacht - so aus:

Anspruch gegenüber dem Jobcenter: € 1730,00
Anzurechnendes Einkommen der Familie M. € 1708,00

Anspruch auf staatliche Leistungen in Höhe von:  € 22,00****

So schnell kann es also gehen. Sie sind überrascht? Denken vielleicht, ich konstruiere hier etwas? Zugegeben, das Beispiel ist besonders für den Berliner Raum exemplarisch, aber da ich momentan hier lebe und wirke, nutze ich den Standortvorteil ungeniert aus. Wie komme ich auf meine Zahlen? 

Aus Erfahrung: Viele Betriebe in Berlin und dem Umland sind nicht tarifgebunden. Somit ist der minimale Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber im Mindestlohngesetz verankert, momentan also € 8,50 / Stunde. Bei Vollzeitbeschäftigung ergibt dies ein Einkommen von € 1360,00 brutto im Monat. Als Berufserfahrene dürften die M.'s etwas mehr verdienen, hier habe ich einen Stundenlohn von rund € 9,30 zu Grunde gelegt. Für Berlin, wie erwähnt, ein leider absolut realistischer Wert. Ob Bürokauffrau, Verkäuferin im nicht-tarifgebundenen Einzelhandel, Call-Center oder tarifgebundene wie Friseure, keiner von ihnen hat am Monatsende mehr als unsere Beispielfamilie auf dem Lohnzettel stehen und das trotz teilweise dreijähriger Ausbildung.  

Soll ich also als junge Familie, die mit diesen Einkommen leben muss den Gang ins Jobcenter antreten? Ja, BITTE UNBEDINGT.  Sie haben sich (bewusst oder unbewusst) für Kinder entschieden, dafür einen Beruf zumindest temporär aufgegeben und fallen somit genau unter die Gruppe, die sich die Gründerväter des Gesetzbuchs vorgestellt haben: Menschen die bereit sind, ihr möglichstes zu tun um durch eigene Arbeit ein auskömmliches Leben zu führen, aber aufgrund familiärer Verpflichtungen (zum Wert der Familie für den Staat lohnt auch mal ein Blick ins Grundgesetz) derzeit nicht in der Lage sind, dieses Ziel aus eigenen Mitteln zu erreichen.
Es gibt sicherlich einige schwarze Schafe, noch mehr Menschen die zu krank für eine Arbeit sind und im Jobcenter "aufgefangen" werden, aber auch viel mehr ehrliche, hart arbeitende Menschen, die immer in die Solidarkassen eingezahlt haben und sich jetzt aus dieser Solidargemeinschaft unterstützen lassen als Sie vielleicht denken.  

Saure Gurken?
Die hier für Sie verwendeten Gelder sind bei Ihnen und ihren Kindern jedenfalls deutlich besser aufgehoben, als in der Rettung einer griechischen Pleiteregierung ;)

Und wenn Sie sich jetzt fragen, ob und wie es denn sein kann, dass eine Familie mit zwei Kindern genötigt ist, sich vom Staat unterstützen zu lassen, dann, ja dann lieber Leser sind Sie beim springenden Punkt - dem Verdienst den man heute vielerorts noch für seine Arbeit erhält - angekommen. Rechnen Sie doch einmal anhand Ihres Lohnzettels aus, wie viele Kinder Sie sich leisten können, ehe Ihnen der Weg zum Amt droht. Frohes Weiterdenken! 
Ihr Alltagspapa


*65 - 67% des Durchschnittsnettos der letzten 12 Monate vor Geburt 
**Berliner Mietspiegel 2015, einfache Wohnlage, 70m², Baujahr 2003 = € 9,36 Nettokaltmiete, € 91 Heizkosten (€ 1,30/m²), € 100 Betriebs-/Nebenkosten
*** gem. § 10 Abs. 5 BEEG, betrifft nur Familien in denen der Bezieher zuvor gearbeitet hat, nicht jedoch Langzeitarbeitslose
****Die Berechnung an sich ist ein hochkomplexes Unterfangen, bei dem mangels deutlicher gesetzlicher Regelungen viele Einzelumstände gewürdigt werden müssen. Auch deshalb sind die einschlägigen ALG II Rechner im Internet nur mit größter Vorsicht zu genießen. Die hiesige Berechnung ist fiktiv, aber realen Sachverhalten in anonymisierter Form entlehnt. Auch würde bei dieser Beispielfamilie sicher geprüft, ob mit Wohngeld oder Kinderzuschlag ein ALG II Bezug vermieden werden kann, Leistungen würden aber zunächst bis zu einer Entscheidung hierüber bewilligt.

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